Wir alle kennen diese Person im Büro. Die, die niemals – und ich meine wirklich niemals – zugibt, dass sie einen Fehler gemacht hat. Selbst wenn die Beweise so offensichtlich sind wie ein Elefant im Porzellanladen. Selbst wenn buchstäblich jeder im Raum genau weiß, was schiefgelaufen ist. Diese Menschen besitzen eine geradezu olympiareife Fähigkeit, Verantwortung zu deflektieren. Aber hier wird es interessant: Psychologen sagen, dass hinter diesem frustrierenden Verhalten oft etwas völlig anderes steckt als pure Sturheit oder ein aufgeblähtes Ego.
Das Paradox des fragilen Selbstwertgefühls
Überraschung gefällig? Menschen, die partout keine Fehler zugeben, tun das nicht, weil sie sich für perfekt halten. Die Forschung zeigt das genaue Gegenteil: Hinter dieser scheinbar selbstbewussten Fassade verbirgt sich oft ein erschreckend instabiles Selbstwertgefühl. Klingt paradox? Ist es auch – aber genau deshalb so faszinierend.
Die Psychologin Dr. Doris Wolf hat in ihrer Forschung zur Fehlerkultur dokumentiert, dass Menschen mit fragilem Selbstwert Fehler nicht als isolierte Ereignisse wahrnehmen können. Während die meisten von uns denken „Okay, da habe ich Mist gebaut, beim nächsten Mal besser“, läuft in diesen Köpfen ein völlig anderes Programm ab. Für sie bedeutet ein Fehler nicht „Ich habe etwas falsch gemacht“, sondern „Ich bin grundsätzlich falsch“. Der Fehler wird zur existenziellen Bedrohung für ihr gesamtes Selbstwertgefühl.
Dein Selbstwertgefühl wäre ein Kartenhaus. Menschen mit stabilem Fundament können ein paar Karten neu arrangieren, wenn mal eine umfällt. Aber wenn das ganze Konstrukt sowieso schon wackelt? Dann wird jede kleine Erschütterung zur potentiellen Katastrophe. Und genau in diesem Modus operieren viele dieser fehlerblinden Kollegen täglich.
Wenn das Gehirn den Notfall-Modus aktiviert
Was neuropsychologisch passiert, ist ziemlich clever – zumindest aus Sicht unseres steinzeitlichen Gehirns. Wenn diese Menschen mit einem Fehler konfrontiert werden, springen unbewusste Schutzmechanismen an. Das ist keine bewusste Entscheidung nach dem Motto „Jetzt lüge ich mal schnell“. Es ist ein automatischer Prozess, bei dem das Gehirn blitzschnell Strategien aktiviert, um das bedrohte Selbstbild zu retten.
Die Forschung zum sogenannten Spiegeleffekt zeigt, dass Kritik bei Menschen mit instabilem Selbstwert als direkte persönliche Bedrohung wahrgenommen wird. Das Gehirn reagiert darauf ähnlich wie auf eine physische Gefahr – mit Fight-or-Flight. Nur dass hier der Fight sich in Form von Rechtfertigungen, Ausreden oder kompletter Realitätsverleugnung äußert.
Diese Mechanismen können unterschiedlich aussehen: Manchmal wird der Fehler komplett geleugnet. Manchmal wird die Schuld externalisiert – also nach außen verlagert auf die Software, das Team, den Kunden oder wahlweise auch den Mondstand. Manchmal wird die Realität so uminterpretiert, dass der Fehler plötzlich gar keiner mehr ist oder sogar als clevere Strategie dargestellt wird. Faszinierend und frustrierend zugleich, besonders wenn man im selben Team arbeitet.
Perfektionismus als Fluchtmechanismus
Jetzt wird es noch spannanter. Viele dieser Kollegen bezeichnen sich selbst als Perfektionisten – und meinen das als Badge of Honor. „Ich habe eben hohe Ansprüche an mich selbst“, hört man dann. Klingt nach Ehrgeiz und Professionalität, oder? Die klinische Psychologie zeichnet aber ein völlig anderes Bild.
Der Perfektionismus, der mit chronischer Fehlerleugnung einhergeht, hat eine komplett andere Motivation als gesundes Streben nach Qualität. Es geht nicht darum, etwas besonders gut zu machen – es geht darum, auf keinen Fall zu versagen. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Der eine läuft auf ein Ziel zu, der andere rennt vor einer Bedrohung davon.
Diese Form des Perfektionismus entsteht oft aus tiefsitzender Angst vor Ablehnung. Irgendwann in ihrem Leben haben diese Menschen gelernt – vielleicht in der Kindheit durch überkritische Eltern, vielleicht in früheren Jobs durch toxische Chefs –, dass Fehler mit Liebesentzug, Ablehnung oder Abwertung bestraft werden. Das sitzt tief. Richtig tief. Und daraus entwickelt sich ein System: „Wenn ich nur fehlerfrei genug bin, kann mich niemand ablehnen.“
Die Illusion der Kontrolle
Ein weiterer psychologischer Mechanismus am Werk: das übermäßige Bedürfnis nach Kontrolle. Menschen, die keine Fehler zugeben können, haben oft das Gefühl, dass ihr Wert als Person direkt mit ihrer Kompetenz und Fehllosigkeit zusammenhängt. Einen Fehler zuzugeben würde bedeuten, diese Kontrolle aufzugeben – und das fühlt sich an wie freier Fall ohne Fallschirm.
Die Forschung zur Kontrollillusion zeigt, dass Menschen mit diesem Muster unrealistische Standards setzen, um ein Gefühl von Sicherheit und Vorhersehbarkeit aufrechtzuerhalten. Das erklärt auch, warum diese Kollegen oft besonders heftig reagieren, wenn man sie auf Fehler hinweist. Die sachliche Information „Hey, hier ist ein Problem aufgetaucht“ wird unbewusst übersetzt in „Du bist inkompetent, wertlos und gleich wird deine ganze Existenz zusammenbrechen“. Kein Wunder, dass dann die Verteidigungsmauern hochgehen.
Was das für den Rest des Teams bedeutet
Okay, jetzt verstehen wir die psychologischen Hintergründe. Aber was bedeutet das konkret für alle anderen, die mit diesen Menschen zusammenarbeiten müssen? Eine ganze Menge, um ehrlich zu sein.
Erstens: Es ist anstrengend. Massiv anstrengend. Wenn jemand systematisch Verantwortung von sich weist, bedeutet das, dass andere sie aufnehmen müssen. Es entstehen Dynamiken, in denen das Team anfängt, auf Eierschalen zu laufen. Man überlegt sich dreimal, ob man ein Problem anspricht, weil man weiß, dass es in eine stundenlange Diskussion ausartet, bei der am Ende trotzdem nichts Konstruktives herauskommt.
Zweitens blockiert dieses Verhalten echtes Lernen und Weiterentwicklung – nicht nur für die betreffende Person selbst, sondern für das komplette Team. Fehler sind in der modernen Arbeitsforschung als wertvolle Lernchancen anerkannt. Wenn aber systematisch geleugnet wird, dass Fehler überhaupt passiert sind, kann auch niemand aus ihnen lernen. Das Team dreht sich im Kreis, macht dieselben Fehler immer wieder, weil nie offen darüber gesprochen wird.
Drittens – und das ist vielleicht am kritischsten – leidet die psychologische Sicherheit im Team. Dieser Begriff aus der Organisationspsychologie beschreibt das Gefühl, dass man Fehler zugeben, Fragen stellen und Bedenken äußern kann, ohne dafür bestraft oder bloßgestellt zu werden. Wenn aber eine Person im Team demonstriert, dass Fehler unter allen Umständen vermieden und geleugnet werden müssen, untergräbt das diese Sicherheit für alle.
Die Teamdynamik kippt
Es entsteht eine Kultur, in der niemand mehr ehrlich ist. Andere fangen an, ihr Verhalten anzupassen – entweder indem sie selbst defensiver werden oder indem sie sich innerlich zurückziehen und nur noch Dienst nach Vorschrift machen. „Wenn sowieso niemand Verantwortung übernimmt, warum sollte ich mich dann besonders engagieren?“
Die Forschung zeigt, dass Teams mit hoher psychologischer Sicherheit innovativer, produktiver und zufriedener sind. Teams ohne diese Sicherheit? Die verwalten bestenfalls den Status quo. Im schlimmsten Fall entwickeln sie toxische Dynamiken von Schuldzuweisungen, Silobildung und passiver Aggression.
Kann man das ändern?
Die gute Nachricht: Dieses Verhaltensmuster ist nicht in Stein gemeißelt. Menschen können lernen, anders mit Fehlern umzugehen – aber es erfordert Zeit, ernsthafte Selbstreflexion und oft professionelle Unterstützung. Die realistische Nachricht: Man kann niemanden von außen dazu zwingen, sich zu ändern. Die Einsicht muss von innen kommen.
Was aber tatsächlich helfen kann – und das ist in der Organisationspsychologie gut dokumentiert – ist die Schaffung einer konstruktiven Fehlerkultur im Team. Wenn Führungskräfte und Kollegen vorleben, dass Fehler menschlich sind und offen besprochen werden können, ohne dass jemand deshalb seinen Job, seinen Status oder seine Würde verliert, sinkt der psychologische Druck für alle. Auch für diejenigen, die bisher am krampfhaftesten daran festgehalten haben, perfekt erscheinen zu müssen.
Konkrete Strategien für den Umgang
Wenn ihr mit einem solchen Kollegen arbeitet, gibt es Ansätze, die aus der Forschung kommen und tatsächlich funktionieren können. Sie werden das Problem nicht über Nacht lösen, aber sie können die Situation graduell verbessern.
- Empathie statt Konfrontation: Wenn ihr versteht, dass die Person aus Angst handelt, nicht aus Bösartigkeit, könnt ihr anders reagieren. Statt „Du hast das verbockt!“ könnte es heißen „Lass uns gemeinsam schauen, was hier passiert ist und wie wir das nächste Mal anders machen können.“ Das klingt nach Haarspalterei, macht aber einen riesigen Unterschied für jemanden, dessen Gehirn auf Bedrohungsabwehr programmiert ist.
- Vorbild sein: Steht zu euren eigenen Fehlern. Offen und ohne Drama. Zeigt durch euer Verhalten, dass die Welt nicht untergeht, wenn man zugibt, etwas falsch gemacht zu haben. Das modelliert psychologische Sicherheit und nimmt langfristig den Druck aus der Situation.
- Fehler nicht ausnutzen: Wenn jemand tatsächlich mal einen Fehler zugibt, ist das ein verletzlicher Moment. Wer dann nachkartelt, triumphiert oder das Thema immer wieder aufwärmt, bestätigt genau die Befürchtung, die diese Person die ganze Zeit hatte: „Fehler werden bestraft.“ Damit zementiert ihr das problematische Verhalten nur.
- Gemeinsam nach Ursachen suchen: Statt Schuldfragen zu stellen, fokussiert euch auf systemische Faktoren. „Was in unserem Prozess hat dazu geführt, dass das passieren konnte?“ ist viel produktiver als „Wer hat das verbockt?“ Das verschiebt den Fokus von persönlicher Schuld auf kollektive Problemlösung.
Die systemische Komponente
Hier ist etwas, das oft übersehen wird: Ob Menschen zu ihren Fehlern stehen oder nicht, hängt massiv von der Organisationskultur ab. In Unternehmen mit einer Kultur der Schuldzuweisung, in denen Fehler karriereschädigend oder existenzbedrohend sind, werden selbst Menschen mit stabilem Selbstwert vorsichtig. In Kulturen, in denen Fehler als Lernchancen gerahmt werden und offen diskutiert werden können, öffnen sich mit der Zeit auch die Verschlossensten.
Das bedeutet: Wenn in eurem Team oder Unternehmen niemand Fehler zugibt, ist das Problem möglicherweise größer als einzelne schwierige Persönlichkeiten. Es könnte ein systemisches Problem sein, das von oben modelliert wird. Wenn die Führungsebene nie zugibt, etwas falsch gemacht zu haben, warum sollten es dann die Mitarbeiter tun? Wenn bei jedem Fehler nach einem Sündenbock gesucht wird, lernen alle sehr schnell, sich zu ducken und wegzuschauen.
Die Rolle von Führung
Führungskräfte haben hier eine besondere Verantwortung und gleichzeitig eine riesige Chance. Die Forschung zeigt immer wieder: Teams, in denen Führungskräfte offen über eigene Fehler sprechen, sind innovativer, zufriedener und produktiver. Warum? Weil psychologische Sicherheit von oben modelliert werden muss. Wenn der Chef oder die Chefin nicht authentisch zu Fehlern stehen kann, wird es auch niemand sonst tun.
Eine Führungskraft, die in einem Meeting sagt „Das war meine Entscheidung und im Rückblick war sie falsch – was können wir daraus lernen?“, demonstriert Stärke, nicht Schwäche. Sie zeigt, dass Fehler zum Menschsein dazugehören und dass der Fokus auf Lernen und Verbesserung liegt, nicht auf Bestrafung und Bloßstellung.
Es geht nicht um euch
Eine Erkenntnis, die vielen Menschen hilft, besser mit der Situation umzugehen: Wenn euer Kollege partout nicht zugibt, dass er einen Fehler gemacht hat, hat das in den allermeisten Fällen nichts mit euch zu tun. Es ist nicht persönlich, auch wenn es sich verdammt persönlich anfühlt.
Diese Person kämpft einen inneren Kampf, der lange vor eurer Anwesenheit begonnen hat. Ihr seid nur zufällig in der Situation, in der sich dieser Kampf manifestiert. Das zu verstehen, kann unglaublich befreiend sein. Es nimmt die emotionale Ladung aus dem Konflikt und erlaubt euch, sachlicher und strategischer zu bleiben.
Menschen, die keine Fehler zugeben können, sind nicht eure Gegner – sie sind Menschen mit einem psychologischen Muster, das ihnen selbst das Leben schwer macht. Wahrscheinlich schwerer als euch, auch wenn das im Moment nicht so aussieht. Ihr seht nur die frustrierende Oberfläche. Sie leben mit der konstanten inneren Anspannung, perfekt sein zu müssen, um überhaupt akzeptiert zu werden.
Die Grenzen des Verständnisses
Gleichzeitig – und das ist wichtig – bedeutet Verständnis nicht, dass ihr euch dauerhaft schlecht behandeln lassen müsst. Es gibt Grenzen. Verständnis für die psychologischen Hintergründe heißt nicht, toxisches Verhalten zu tolerieren oder die eigene mentale Gesundheit zu opfern.
Wenn das Verhalten eines Kollegen das Team massiv belastet und alle Versuche, die Situation zu verbessern, gescheitert sind, müssen organisatorische Lösungen her. Klare Kommunikationsstrukturen, mediierte Gespräche mit der Personalabteilung oder im Extremfall auch personelle Konsequenzen sind legitim. Empathie heißt nicht, alles zu akzeptieren. Sie bedeutet nur, dass ihr die Mechanismen versteht, die am Werk sind – und dieses Verständnis kann euch helfen, strategischer und weniger emotional zu reagieren.
Was das über unsere Arbeitskultur verrät
Wenn wir einen Schritt zurücktreten und das größere Bild betrachten, sagt das Phänomen der chronischen Fehlerleugnung auch etwas über unsere Leistungsgesellschaft aus. Wir leben in einer Kultur, in der Scheitern oft als persönliches Versagen gewertet wird, nicht als normaler und notwendiger Teil von Entwicklung und Innovation.
Social Media verstärkt diesen Effekt noch. Wir sehen ständig kuratierte Erfolgsgeschichten, während Fehler und Scheitern im Verborgenen bleiben oder höchstens als inspirierende „Failure-to-Success“-Stories inszeniert werden. Das erzeugt den Eindruck, dass erfolgreiche Menschen keine Fehler machen – was natürlich kompletter Unsinn ist. Aber es formt unsere kollektive Psyche und verstärkt die Angst, mit Unzulänglichkeiten assoziiert zu werden.
In diesem Kontext ist es fast schon nachvollziehbar, dass manche Menschen besonders verkrampft darauf reagieren, wenn ihre Fehler sichtbar werden. Sie haben verinnerlicht, dass Fehler das Ende von Respekt, Status und Zugehörigkeit bedeuten. Dass das objektiv nicht stimmt, hilft ihnen nicht – subjektiv fühlt es sich so an.
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